Reality… (Dez. 2010)



Unumstößlich stand der Termin fest. Jetzt musste endlich was geschehen, wenn ich nicht in absehbarer Zeit am (Rollstuhl-)Rad drehen wollte.

Vor einigen Jahren habe ich solche Situationen immer hinaus geschoben. Nicht, weil ich Angst davor gehabt hätte, sondern weil ich einfach zu bequem war. Wieder Krankenhaus, wieder OP, wieder nach anderer Leute Nase tanzen oder auf Andere angewiesen sein….

Ich habe mich geändert, nehme jetzt alles gleich in Angriff, denn, wenn ich nichts verändere, verändert sich nichts… Also ran an den Speck.

Mir wurde bewusst gemacht, dass mein Vorhaben kein Spaziergang werden würde, man begrüßte jedoch auch meine Entscheidung, alles auf einmal richten zu lassen und sah dies als Herausforderung an. Ich mag Menschen mit krassen Entschlüssen, welche, die Entscheidungen treffen, auch wenn es schwierig werden könnte.

Also, nichts wie hin und zusehen, dass ich so schnell wie möglich wieder auf dem Damm bin. Etwa einundzwanzig Tage sollte mein Aufenthalt in der Klinik dauern, worauf ich mich auch eingestellt hatte. Leider war sie so weit von zu Hause entfernt, so dass abzusehen war, keinen Besuch zu erhalten. Also musste ich mich bekleidungsmäßig auch entsprechend ausrüsten und zog mit zwei vollgepackten Reisetaschen und natürlich meinem Laptop ins Spital.

Hat ein paar Tage gedauert, eh sich das Personal an meinen etwas außergewöhnlichen Humor gewöhnt hatte. Auch, dass ich ständig verschwunden war, musste man erst mal akzeptieren lernen. Zudem war ja auch noch Vorweihnachtszeit. Am 03.12. operiert, vier bis 5 Tage Bettruhe -so dachte man-, hatte aber die Rechnung nicht mit mir gemacht. Am 06.12., Nikolaustag, zog ich mit meiner mitgebrachten Nikolausmütze über den Flur in Richtung Treppenhaus, Ausgang, Raucherecke.

Der erste Zug war ein Erlebnis! Der zweite Zug – na ja, aber die zweite Zigarette, gleich im Anschluss war einfach nur ……lecker !

Nach dem Genusserlebnis stapfte ich also brav wieder die Treppe hinauf. Fahrstuhl? Nein, ich doch nicht! Wer rauchen kann, kann auch Treppen steigen. Auf der Station wurde ich bereits wieder erwartet.

„Alles in Ordnung? Wo waren Sie?“ wollte das Pflegepersonal wissen.

„Inhalieren“, gab ich zur Antwort, „jetzt ist wieder alles o.k.“

Mein Verhalten blieb auch den Ärzten nicht verborgen und so bekam ich schon recht bald den Spitznamen „Turnschuh“, was mir schmeichelte.

Ab da ging es in riesen Schritten bergauf. Im Ort gab es eine kleine Citymeile, die ich einen Tag vor dem Weihnachtsmarkt und dem Tag der offenen Tür am Sonntag, erkundete. Ich musste ja schließlich testen, ob ich mir am anderen Tag einen Weihnachtsmarktbesuch zutrauen konnte. Immerhin hatte ich mir vorgenommen, einen Glühwein zu trinken.

Alles klappte prima. Ich ließ mir richtig Zeit, um das kleine Städtchen zu erkunden. Der Glühwein war ein Genuss. Leider musste ich mein Vorhaben alleine durchziehen, weil meine Zimmergenossinnen schlappe Socken waren. Kein Selbstvertrauen, Angst vor Tadel und Angst vor den versicherungstechnischen Folgen, die ein Unfall zur Folge haben würde. Bei so viel negativen Gedanken, wollte ich meinen Nachmittag in der Tat lieber alleine genießen und tat es auch.

Weihnachtliche Musik aus meinem MP3-Player versetzten mich richtig in Weihnachtsstimmung. Ich genoss den Tag, wie jeden in meinem Leben.

Zurück vor der Klinik, am Aschenbecher stehend, eine Einkaufstüte in der Hand, begegnete mir der Chefarzt. Seine Blicke waren mir nicht entgangen, aber sein Augenzwinkern auch nicht. Ich liebe tolerante Menschen…..

Am anderen Morgen bei der Visite erfuhr ich, dass man meinen Entlassungstermin insgesamt um neun Tage verkürzen wollte, weil der Heilungsprozess so enorm sei, und es keine Veranlassung mehr gäbe, mich länger dort zu behalten.

‚Also gut‘, dachte ich und begann zu packen.

Nach dem Frühstück und der Morgenzigarette machte ich mich also am Folgetag auf den Weg zu meinem Auto, das zwei Straßen weiter auf einem kostenfreien Parkplatz auf mich wartete. Ich liebe meinen kleinen Wagen und rede immer liebevoll mit ihm. Selbst mit Streicheleinheiten bin ich nicht sparsam. Er hat mich noch nie im Stich gelassen. Nur diesmal – diesmal schien er beleidigt zu sein, dass er so lange auf mich warten musste.

Tief verschneit hatte er wohl noch nicht damit gerechnet, dass es bereits schon jetzt nach Hause gehen sollte. Ich steckte den Schlüssel in die Fahrertüre und wollte aufschließen.

Mist – zugefroren. Also stelle ich mich rückwärts, mit meinem Hinterteil an die Wagentür und halte meine Hand auf das Schloss in der Hoffnung, dass sich der Schlüssel im Schloss dann bewegen ließ.

Wieder nichts – was mache ich nun? Nur nicht aufgeben, nachdenken und Ruhe bewahren. Ich holte das Feuerzeug aus meiner Zigarettenschachtel und wärmte mit der Flamme den Schlüsselbart, steckte ihn schnell wieder ins Schloss und versuchte erneut zu öffnen. Immer noch tat sich nichts. Ich drehte mich erneut mit meinem Hinterteil dem Türschloss zu und wollte es noch einmal versuchen. Vergeblich!

Nasenspray, ja ich hatte doch noch Nasenspray in meiner Handtasche, das ist doch Kochsalzhaltig. Das könnte funktionieren.

Wieder nichts….!

Mittlerweile waren schon mehr als 25 Minuten vergangen. Man würde mich sicher vermissen. Egal, ich musste irgendwie ins Fahrzeug. Die Beifahrertüre konnte ich nicht schließen, da dort eine neue Türe mit anderem Schloss eingebaut war, nachdem mir in einer Baustelle ein Bagger rückwärts zeigen wollte, wer der Stärkere war.

Endlich, da kam eine junge Familie, die ihr Fahrzeug ebenfalls auf dem Parkplatz abgestellt hatte. Ich sprach den Herrn an, ob er vielleicht Eisspray habe. Ich stellte fest, dass die Familie eine Holländische, türkischer Abstammung war. Niemand von ihnen sprach deutsch – nur englisch.

Nun gut, das ging auch. Der Mann kam mit einem Kanister Kühlwasser-Frostschutz zu mir und begoss damit das Türschloss und den Türrahmen. Dabei versuchte auch er ständig, den Schlüssel im Schloss zu drehen. Nichts ging!

Was ist mit der Heckklappe? Die ließ sich bislang seit etwa zwei Jahren nicht mit dem Schlüssel betätigen, aber als der freundliche junge Mann es versuchte, ging sie plötzlich auf.

Wow, endlich! So kann ich sicher mit dem Regenschirm, der sich im Kofferraum befindet, eine der Innentüröffner betätigen.

Ich bedankte mich höflich bei der Familie, die schon bald verschwunden war. Es schneite immer noch und ich wollte nur noch weg.

Ich nahm den Schirm aus dem Kofferraum und stellte fest, dass meine Arme wesentlich zu kurz waren, um auch nur annähernd an die Türöffner zu gelangen. Was nützt mir dann der offene Kofferraum?

Mir blieb keine Wahl. Ich schaute mich um, ob mich niemand sah – kein Arzt in der Nähe war, betätigte die Knöpfe, die die Rücksitze umklappen ließen, hob mein linkes Bein und kniete mich in den Kofferraum. Mit der Krücke des Regenschirmes zog ich mich in das Wageninnere. Puh, das war geschafft. Ich krabbelte über die umgeklappten Sitze noch ein wenig mehr nach vorne, als mein Handy in der Jackentasche klingelte.

‚Wer stört‘, dachte ich und fuchtelte mit der linken Hand, ohne die Handschuhe auszuziehen, in meiner Jackentasche herum.

„Christiane Rühmann, guten Morgen“.

Die Anruferin wollte einen Kostenvoranschlag geschrieben haben. Ich erklärte ihr kurz, dass ich ein kleines Fahrzeugproblem habe und mich auf einem Parkplatz in Emmerich befinden würde. Ich wolle sie aber später zurückrufen, wenn es mir möglich sei. Ich müsse zunächst noch etwas klären.

Aus-Taste gedrückt, Handy zurück in die Tasche gleiten lassen und versucht, an dem Türöffner zu ziehen. Mist, er ließ sich auch von innen nicht bewegen. Boah, langsam kann ich mich nicht mehr halten. Ich verspüre ein Ziehen im Rücken. Jetzt versuche ich es auf der Beifahrerseite. Es bewegt sich was – warum nicht gleich so? Noch einmal kurz mit der Faust gegen die Innenverkleidung schlagen.

Geschafft, die Türe ließ sich öffnen. Weiter nach vorne wollte ich aber nicht krabbeln, zu schwierig, also wieder zurück. Sehr vorsichtig und langsam bewegte ich mich rückwärts wieder aus dem Fahrzeug hinaus. Zwar hatte ich nun wieder festen Boden unter den Füssen, aber es war sauglatt.

Der Vollidiot, der das ganze Spiel seit 45 Minuten von seinem Balkon aus verfolgt hatte, stand noch immer da und gaffte blöd. Mit einem Liter heissen Wasser hätte er mich schon längst aus dieser Misere befreien können. Er war halt eben ein Mann.....

Ich stieg auf der Beifahrerseite ein, steckte den Schlüssel ins Zündschloss, entfernte ohne Kupplung den eingelegten Gang aus dem Getriebe und startete. Na komm schon, lass mich jetzt nur nicht hängen! Nochmal – und der Motor sprang an. Das Gebläse stellte ich auf höchste Stufe und nahm den Eiskratzer, um das Fahrzeug endlich von Schnee und Eis zu befreien.

Da sich die Fahrertüre immer noch nicht öffnen ließ, stieg ich nachdem wieder auf der Beifahrerseite ein. Wie komme ich jetzt über den Tunnel? Ich kann meine Beine noch nicht so heben. Nimmt das denn nie ein Ende? Sollte das ein Zeichen sein, noch da bleiben zu müssen? Ich nahm zum letzten Mal meine gesamte Kraft zusammen, biss die Zähne fest aufeinander und schaffte es tatsächlich, das linke Bein in den Fußraum der Fahrerseite zu setzen. Und was mache ich nun mit dem rechten Bein? Ich saß mit meinem Allerwertesten auf der Handbremse, die ich angezogen hatte, weil ja kein Gang eingelegt war. Die unbequeme Härte der Handbremse spürte ich kaum, denn mein Hintern war eh eingefroren.

‚Du schaffst das‘ motivierte ich mich, ‚nur nicht aufgeben‘!

Mit viel Gefühl, Kraft und Ausdauer gelang es mir, das rechte Bein schließlich nachzuziehen.

„Juchhuuuu, geschafft!“

Die Türe ließ sich immer noch nicht öffnen, obwohl es langsam im Fahrzeuginneren warm wurde. Erst mal tief durchatmen und dann ganz gefühlvoll losfahren. Merkwürdiges Gefühl. Mit dem Korsett um meinen Leib war die Sitzstellung auch nicht mehr richtig. Also nun neu justieren. Ja, so könnte es passen. Ich versuche erneut, die Fahrertüre zu öffnen. Aah, endlich. Jetzt war sie wohl endlich aufgetaut. Ich öffnete sie und zog sie gleich wieder zu.

Ich fahre los und rolle kurze Zeit später vor der Klinik vor.

„Christiane, wo warst Du denn so lange? Wir dachten schon, es wäre etwas passiert. Ist alles in Ordnung?“

„Jaja, musste nur etwas Eis kratzen. Wie Ihr wisst, bin ich ja nicht mehr so beweglich. Es hat halt eben gedauert,“ entgegnete ich und machte mich auf den Weg in mein Zimmer, um das Gepäck zu holen.

Ich spürte in mich hinein. War wirklich alles in Ordnung? Ja, passt schon! Abschied auf der Station und die Ermahnung, ja auf mich aufzupassen und die Aufforderung, bei Wiedervorstellung mal vorbeizuschauen, lassen mich breit grinsen.
Es war schön hier.

Ein freundlicher Besucher half mir dabei, das Gepäck in dem Kofferraum zu verstauen. Umarmend verabschiede ich mich von meinem „Raucherclub“. Alle winken mir nach, ich winke zurück.

Hah, wenn sie alle wüssten.....

Dem Vollidiot auf dem Balkon wünsche ich, dass er für die kommenden 4 Wochen dort angefroren bleibt, als ich an seinem Haus vorbei fahre.

Endlich geht´s nach Hause……

© Christiane Rühmann

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